
Der Sexualkundeunterricht spaltet die Gemüter: Schüler:innen schwanken zwischen positiver Spannung und Scham, Lehrkräfte fühlen sich schlecht vorbereitet und würden die Aufgabe am liebsten abgeben. Eine Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2019 hat unterdessen ergeben, dass der Unterricht vielfach auf rein biologische Themen konzentriert ist.
Welche Themen wurden in Ihrem Sexualerziehungsunterricht behandelt?
Diese Frage wurde 3.556 Vierzehn- bis Siebzehnjährigen gestellt. Die Antworten offenbaren, dass der Sexualkundeunterricht auch heute noch vor allem auf anatomisch-physiologische Aspekte sowie Krankheits- und Schwangerschaftsprävention konzentriert ist. So gaben 96 der Befragten an, über Geschlechtsorgane gesprochen zu haben, 79 Prozent sagten, es sei über die körperliche Entwicklung gesprochen worden, 75 (weiblich gelesen) bzw. 78 Prozent (männlich gelesen) haben über Geschlechtskrankheiten und 65 (weiblich gelesen) bzw. 59 Prozent (männlich gelesen) über Schwangerschaft und Geburt gesprochen.
Themen, die nicht direkt auf körperliche Aspekte der Sexualität bezogen sind, kamen der Studie zufolge im Unterricht hingegen deutlich seltener vor. Über Homosexualität sprachen etwa nur 47 Prozent – was den Sexualkundeunterricht als nach wie vor in der Tradition heteronormativen Denkens stehend erscheinen lässt. Sexuelle Gewalt und Missbrauch wurden nur bei 45 Prozent der Befragten im Unterricht thematisiert. Das wiederum lässt sich als verpasste Chance der Sensibilisierung potentieller Täter:innen wie Opfer und damit als vertane Möglichkeit, Missbrauch aktiv entgegenzuwirken und potentiell Betroffenen Hilfe zu vermitteln, verstehen. Auch Schwangerschaftsabbrüche wurden kaum thematisiert: Nur 36 (weiblich gelesen) bzw. 31 Prozent (männlich gelesen) der Befragten sprachen in ihrem Sexualkundeunterricht über dieses Thema. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Unterricht in der Schule für viele Kinder und Jugendliche nach wie vor eine zentrale Stelle der Aufklärung darstellt, ist das durchaus problematisch: Möglicherweise gelangen Interessierte anderweitig nicht an adäquate Informationen über die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – zumal bis Ende Juni 2022 ein Werbeverbot galt.
Ziele des Sexualkundeunterrichts
Einordnen lassen sich die Befunde der Studie in den Streit um die Ausrichtung des Sexualkundeunterrichts. In der ersten Empfehlung zum Sexualkundeunterricht, die die Kultusministerkonferenz (KMK) im Jahr 1968 herausgab, heißt es: „Sexualerziehung als Erziehung zu verantwortlichem geschlechtlichen Verhalten ist Teil der Gesamterziehung.“ Betont wird ferner, dass die Schüler:innen „den Unterschied der Geschlechter kennen und über die Tatsachen der Mutterschaft Bescheid wissen“ sowie „ihre Aufgaben als Mann oder Frau erkennen, ihr Wertempfinden und Gewissen entwickeln und die Notwendigkeit der sittlichen Entscheidung einsehen“ sollen. Durchzogen ist die Erklärung, die damals kontrovers diskutiert und von konservativer Seite massiv kritisiert wurde, von moralischen Vorstellungen: Promiskuität, Prostitution und Homosexualität werden etwa als „sozialethische Probleme der menschlichen Sexualität“ gefasst, das Erkennen einer als vorgegebenen verstandenen geschlechtlichen Aufgabe in der Gesellschaft als Ziel vorgeschrieben und festgehalten, dass es Aufgabe der Schule ist, zu verhindern, „daß junge Menschen während oder nach ihrer Schulzeit in ihrem geschlechtlichen Verhalten aus bloßer Unwissenheit falsche Wege gehen“.
Bereits zu erkennen ist jedoch, dass eine rein biologische Orientierung nicht das Ziel des Unterrichts war. Vielmehr wurde bereits 1968 betont, dass Sexualität sich in einem Spannungsfeld von biologischen und sozialen Aspekten entfaltet. Abgerückt ist die Schule dabei zumindest partiell von einer stark normativen Ausrichtung: Ist in der Empfehlung von 1968 noch von „abnorme[n] Formen“ sowie „problematischen und negativen Erscheinungen menschlichen Sexualverhaltens“ die Rede, die thematisiert werden sollen, sieht das Land NRW heute die Befähigung der Schüler:innen, „in Fragen der Sexualität eine eigene Wertvorstellung zu entwickeln“ als Unterrichtsziel. Nichtsdestotrotz finden sich auch heute noch stärker normative Vorgaben. Ebenfalls in NRW wird etwa noch heute der „Schutz von Ehe und Familie“ als Grundlage und der „verantwortungsvolle[] Umgang mit der Partnerin oder dem Partner“ als Ziel des Unterrichts gesehen. Damit sind normative Vorstellungen berührt, die apodiktisch vorausgesetzt und zur Unterrichtsgrundlage gemacht werden – etwa die, dass Sexualität sich notwendig mit einem:r Partner:in vollzieht oder dass Ehe und Familie Werte an sich seien.
Vor diesem Hintergrund wird verständlicher, dass Lehrer:innen ungern Sexualkunde unterrichten: Sie begeben sich damit in ein Spannungsfeld unterschiedlicher normativer Vorstellungen, die von staatlicher ebenso wie von weltanschaulicher Seite an sie herangetragen werden. So ist etwa auch festzustellen, dass der Sexualkundeunterricht besonders häufig Gegenstand von Unterrichtsbefreiungsanträgen aus religiösen Gründen ist. Hier herrscht also in besonderem Maße Uneinigkeit hinsichtlich der Ziele des Unterrichts: Soll er rein anatomisch-physiologisch orientiert sein oder soziale Aspekte berühren? Sollen soziale Aspekte der Sexualität wertungsneutral diskutiert werden? Sollen dem Unterricht normativen Orientierungen zugrunde liegen? Zur Unklarheit tragen die Paradoxien der staatlichen Leitlinien bei: Eine Befähigung zur Mündigkeit und zur Bildung eines eigenen Urteils ist schwerlich zu vereinen mit einem starren normativen Rahmen, der staatlicherseits vorgegeben wird.
Kompetenz nicht vorhanden?
Hinzu kommt die Tatsache, dass viele Lehrer:innen sich fachlich nicht vorbereitet fühlen. Das wiederum ist auch (und vor allem) darauf zurückzuführen, dass Sexualkundeunterricht im Lehramtsstudium in der Regel nicht thematisiert wird – und eine Vorbereitung somit ausbleibt. An dieser Stelle setzen seit einiger Zeit spezielle Programme der Lehrer:innenbildung an, etwa das an der Europa-Universität Flensburg entwickelte Programm Teach Love, für das die Psychologin Johanna Lisa Degen verantwortlich ist.
Quellen und Weiterführendes:
https://www.spiegel.de/panorama/bildung/sexualkunde-unterricht-an-schulen-wie-finden-sie-gangbang-a-b9c60ede-5b43-4174-9c36-7238e575b54a
https://www.uni-flensburg.de/psychologie/forschungpresse/forschungsprojekte/laufende-projekte/teach-love
https://www.schulministerium.nrw/sites/default/files/documents/Richtlinien-fuer-die-Sexualerziehung-in-NRW.pdf
http://dgg-ev-bonn.de/index.php/2018/10/03/3-oktober-2018-erinnerung-an-50-jahre-kmk-empfehlung-zur-schulisch-verpflichtenden-sexualerziehung/