
Haben Sie auch den Eindruck, die Anforderungen an den Lehrerberuf hätten sich in den letzten 10, 20 Jahren weit mehr gewandelt als die Schule? Wissensbestände veralten immer rascher und die „Halbwertszeit des Wissens“ beträgt in manchen technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen nur noch zwei Jahre. Was macht das mit Schule? Wird sie damit immer unwichtiger und wertloser? Dr. phil. Stefan Braun, Lehrer für Sek I und II sowie Schulentwicklungsbegleiter und Autor, hat zu diesem Themenkomplex ein schlankes Essay1 vorgelegt, dessen Lektüre sich absolut lohnt. Sein „Plädoyer für eine Schule der Möglichkeiten“, so der Untertitel, beschäftigt sich mit der Frage, welche Rolle Schule in heutiger und künftiger Zeit noch spielen kann – angesichts von immer rasanterem Fortschritt, der Möglichkeiten von KI und der wachsenden Unklarheit darüber, welche Schlüsselqualifikationen heutige Kinder für die Bewältigung der Zukunft brauchen werden.
Das schmale Buch beginnt mit der Skizzierung zweier Unterrichtseinheiten, einer sehr sorgfältig strukturierten im Fach Geschichte sowie einer völlig offen konzipierten zu einem Rilke-Gedicht. Mit diesen beiden Ansätzen hinterfragt der Autor, warum es Schule eigentlich gibt. Knapp stellt er ihre Entwicklung dar und fragt nach ihrer Funktion in heutiger Zeit. Im zentralen und ausführlichsten Kapitel skizziert Stefan Braun Schule als Möglichkeitsraum, als Zukunftshaus. Sie als Experimentierfeld zu betrachten eröffnet Chancen, die verschlossen bleiben, wenn wir von einem fixierten System ausgehen. Er geht auf die Bedeutung des menschlichen Gehirns für das Lernen ein und verbindet die Lehrerrolle damit: „… das mutmachende Einfühlen des Pädagogen ist der vielleicht wichtigste Faktor auf dem Weg, Köpfe in Bewegung zu bringen“ (S. 52). Und schließlich analysiert er die zweifache Verantwortung von Schule, nämlich sowohl für die individuelle Reifung der Schülerinnen und Schüler als auch für die gesamte Gesellschaft.
Im weiteren Verlauf des Essays geht es um die Zukunft und wie unsere Kinder lernen können, sie zu bewältigen. Stefan Braun sinniert über den Bauhaus-Stil der Architektur und sieht Möglichkeiten, ihn als Methode auf schulisches Lernen zu übertragen. Er thematisiert Schule als Formerin der Welt; er hinterfragt ansatzweise die neuen digitalen Möglichkeiten auf Chancen, „so vernünftig wie möglich“ (S. 63) mit ihnen umzugehen. Und schließlich denkt er über Schule als einen Ort nach, an dem LehrerInnen mit SchülerInnen in Wissens- und Kompetenzwelten spazieren gehen können. Sein abschließendes Postulat lautet: „Schule, du kannst zur Zukunftsinstitution unserer Gesellschaft werden!“ (S. 87)
Ein Essay ist grundsätzlich kurz, aber inhaltlich anspruchsvoll. Es ist keine wissenschaftliche, sondern eine subjektive und durchaus unterhaltsame Textform. Das gilt auch für „Wo die Zukunft sitzt“. Doch bei aller Knappheit verzichtet Stefan Braun nicht darauf, Bilder im Leser, in der Leserin entstehen zu lassen und Ideen für eine zeitgemäße, zukunftsorientierte Schule anschaulich zu beschreiben. Sein Stilmittel, realistische Szenen aus dem Schulleben einzustreuen, erdet die angeregte Fantasie immer wieder. Dennoch muss – natürlich – Vieles offen bleiben und viele Gedanken von Stefan Braun klingen streitbar. Doch genau das macht die Lektüre eines Essays ja zu einem intellektuellen Vergnügen und wird (besonders in diesem Fall) angeregte Diskussionen auslösen.
- Braun, Stefan: Wo die Zukunft sitzt. Plädoyer für eine Schule der Möglichkeiten, Heidelberg (Carl-Auer Verlag) 2025, 90 S., € 14,50 (E-Book: € 12,99) ↩︎
Artikel geschrieben von
Dipl.-Päd. Detlef Träbert
„Schubs“-Schulberatungsservice
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