Eine objektive Beurteilung fällt jedem Menschen schwer, denn jeder Mensch lebt aus einer subjektiven Perspektive. Dementsprechend ist der erste und wichtigste Schritt, um als Lehrer eine möglichst faire Bewertung zu erzielen, diese Tatsache zu akzeptieren.
Wer erkennt, dass die eigene Beurteilung niemals wirklich objektiv sein kann, da wir als Menschen ein emotionales Wesen sind, welches stark durch die Vergangenheit, Konditionierungen und Erfahrungen geprägt sind, kann damit bewusst umgehen.
Sobald wir dies bei uns erkannt haben, sind wir als Lehrer oder Lehrerin in der Lage, uns überhaupt bewusst fair zu verhalten. Wer sich seiner eigenen Fehlbarkeit nicht bewusst ist und nicht akzeptiert, dass man unterbewusst Lieblingsschüler hat und andere Schüler, die man nicht so gerne mag, wird sich weder auf konstruktive Kritik der Schüler oder Eltern einlassen, noch von selbst aus eine faire Beurteilung vornehmen können.
Beispiele für Wahrnehmungsverzerrungen im Schul-Alltag
So wie es Schüler gibt, die ein Lehrer nicht so gerne mögen, gibt es auch Schüler, welche von manchen Lehrern besonders gerne gemocht werden. Doch nicht nur die “unbeliebten” Schüler können unter der Wahrnehmungsverzerrung eines Lehrers leiden, auch die besonders beliebten könnten das Opfer von unterbewussten und unbewussten Vorgängen unserer Psyche und unserer Gefühle werden.
Der Halo-Effekt: Wenn das Licht verblasst
Das beste Beispiel dafür ist der Halo-Effekt. Im Rahmen des Halo-Effekts schließen wir von einer positiven Eigenschaft auf weitere positive Eigenschaften – welche allerdings nicht zwangsläufig vorhanden sind. Gibt es zum Beispiel einen Schüler, der sehr gut im Sportunterricht ist, nimmt der Lehrer möglicherweise an, dass dieser Schüler sich auch gesund ernährt und dass ihm seine Gesundheit wichtig ist.
Vielleicht hat der Schüler aber absolut kein Interesse an einer gesunden Ernährung und überrascht den Sportlehrer nach der Schule durch das Rauchen einer Zigarette an der Bushaltestelle, während neben ihm Süßigkeiten liegen. Dadurch, dass der Lehrer den Schüler für einen Mensch gehalten hat, dem die Gesundheit sehr wichtig ist, ist der Lehrer umso enttäuschter vom Verhalten des Schülers. In einem solchen Fall kann der Halo-Effekt dafür sorgen, dass durch eine positive Eigenschaft andere negative Eigenschaften ins Licht gerückt werden.
Der Rezenz-Effekt: Ein Fehler zum Schluss kann fatal sein
Der Rezenz-Effekt beschreibt beispielsweise, dass Informationen am Ende eines Vortrags mehr Gewicht haben können, als die Informationen vom Anfang, welche vielleicht schon in Vergessenheit geraten sind. Das lässt sich auch auf eine Unterrichtsstunde beziehen:
Wenn ein Schüler die meiste Zeit einer Unterrichtsstunde sehr ruhig ist und sich gelegentlich am Unterrichtsgeschehen beteiligt, aber zum Schluss einmal den Unterricht durch eine hohe Lautstärke stört, dann kann diese letzte Störung ein hohes Gewicht haben.
So nimmt ein Lehrer diesen Schüler durch 2 Sekunden Lautstärke am Ende des Unterrichts generell als Störenfried wahr, während am Anfang des Unterrichts andere Schüler viel öfter durch ihre störende Lautstärke aufgefallen sind. Das ist jedoch in Vergessenheit geraten und die Person, welche zum Schluss laut war, ist der “führende” Störenfried für das Unterbewusstsein. Ebenso kann es sein, dass die im Unterricht erbrachte Leistung durch das unangenehme Auffallen am Ende der Stunde verdrängt und wenig wahrgenommen wird, da der Fokus ganz einfach durch den Rezenz-Effekt verlagert wird.
Der Projektionseffekt – ein Alltagsphänomen
Abschließend noch ein Effekt, dem wir unausweichlich ausgesetzt sind. Wenn der Lehrer beispielsweise ein bekennender Veganer ist und regelmäßig versucht, die Schüler ebenfalls zu dieser Lebensweise zu überzeugen, dann ist die Chance hoch, dass mehr Sympathie zu vegan lebenden Schülern herrscht. Ebenso kann – je nach Typ – die Antipathie gegenüber den Schülern steigen, die der vegan lebende Lehrer beim Fleisch essen sieht. Manchmal vielleicht bewusst, häufig aber wahrscheinlich eher unbewusst.