Zwischen pädagogischer Theorie und Praxis sowie zwischen pädagogischen Wertvorstellungen und der Erziehungswirklichkeit bestehen teilweise erhebliche Diskrepanzen. Besonders pointiert herausgestellt wurde das wohl grundlegendste dieser Probleme von Immanuel Kant: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Lehrer:innen stehen regelmäßig vor dem Problem, auf Selbstständigkeit und Mündigkeit der Schüler:innen zu zielen, auf dem Weg zu diesem Ziel jedoch autoritär auftreten zu müssen.
Autonomie als Erziehungsziel
Hinter dem Kant’schen Paradox, das jeder Erziehung zugrunde liegt, steht der Gedanke der Mündigkeit als oberstem Erziehungsziel. Unter Mündigkeit kann dabei die Fähigkeit, sich autonom in der Welt zu bewegen, verstanden werden: Mündigkeit ist das Vermögen, über sich selbst zu bestimme und Eigenverantwortung auszuüben.
Vor dem Hintergrund dieser Definition ist schnell ersichtlich, dass eine forcierte Erziehung einen Widerspruch produziert. Einen Menschen zur Autonomie zu zwingen, bedeutet zugleich, diese zu negieren. Dieses Grundparadox einer jeden pädagogischen Tätigkeit wurde und wird in der Fachliteratur ausgiebig bearbeitet.
Besonders prominent ist auch hier Kants Versuch der Antwort, mit dem er eine seiner Pädagogikvorlesungen beginnen lässt: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“. Erklärt wird das Paradox damit anthropologisch, indem auf das besondere Wesen des Menschen verwiesen wird. Dieser ist, so Kant, zur Freiheit fähig und gezwungen. Aufgrund seiner Instinktarmut ist der Mensch von Natur aus weitgehend unbestimmt. Zur Selbstgestaltung fähig wird er jedoch nur, wenn er dazu zunächst angeleitet wird. Gelöst wird das Grundproblem damit freilich nicht; es findet lediglich eine Verschiebung statt, die die pädagogische Praxis der Zwangsausübung legitimieren soll.
Diese pädagogische Praxis beschreibt Kant in der Folge relativ ausführlich. So benennt er vier Stufen des Erziehungsprozesses: Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung. An erster Stelle steht hier eine Begrenzung der Freiheit; das zu erziehende Kind wird durch Verhaltensregeln, die ihm diktiert werden, eingeschränkt. In der Folge kommt es zu Erziehung im positiven Sinne: Der Mensch erwirbt Wissen und Kompetenzen (Kultivierung), er übt sich in sozialen Umgangsformen bzw. Konventionen (Zivilisierung) und wird schließlich fähig, selbstständig moralische Maximen zu entwerfen und nach diesen zu leben (Moralisierung). Auch in den Stufen der Kultivierung und der Zivilisierung ist er jedoch vorgegebenen Lernzielen und damit Zwang unterworfen.
Um die Einschränkung von Freiheiten im Erziehungsprozess nicht willkürlich und als reine Machtausübung erscheinen zu lassen, ist sie nach Kant gut zu begründen: Es müsse beständig bewiesen werden, „daß man ihm [dem Kind] einen Zweck auferlegt, der es zum Gebrauch seiner eigenen Freiheit führt, daß man es kultiviere, damit es einst frei sein könne“.
Relevanz im Schulkontext
Dass dieses Grundproblem der Pädagogik auch heute noch von zentraler Bedeutung ist, werden wohl alle Lehrer:innen aus ihrer Berufspraxis heraus bestätigen können. Zumal in einer Zeit, in der Schüler:innen als Subjekte in ihren jeweiligen Rechten anerkannt werden und das Bild der despotischen Lehrer:innen, die völlig selbstverständlich Gewalt ausüben, der Vergangenheit angehört, erscheint die Frage nach der Rechtfertigung der Autorität dringend. Wie also kann eine Balance gefunden werden, die Unterricht ermöglicht, ohne die Autonomie der Schüler:innen, die Ziel und Richtschnur zugleich ist, zu negieren?
Besonders im Rahmen von Unterrichtsreihen, die explizit auf freie Meinungsbildung zielen und/oder Fragestellungen rund um Autonomie, Selbstbestimmungsrecht und menschliche Freiheit berühren, wird das grundlegende Unterrichtsproblem bewusst. Antiautoritäre Impulse sind hier gut nachzuvollziehen, im bürokratisierten Schulalltag zwischen Aufsichtspflicht, Lehrverpflichtung und weiteren Vorgaben jedoch nur schwer umzusetzen.
Im Sinne Kants ist zur Abmilderung des Grundproblems zu seiner offenen Thematisierung zu raten, was insbesondere im Kontext der genannten Unterrichtsreihen durchaus umsetzbar erscheint: Die Schule ist den Schüler:innen als Lebenswelt ebenso vertraut wie ihre eigene Rolle, sodass aus der Thematisierung ebendieser wertvolle Impulse für die Bearbeitung von Fragen rund um Freiheit, Zwang, Autonomie usw. entspringen können.
Daneben stellen sich jedoch auch ganz praktische Fragen des Klassenraummanagements: Wie etwa ist mit Arbeitsverweigerung umzugehen? Wie kann auf Unterrichtsstörungen reagiert werden? Auch hier lohnt es sich, die Dysbalance von Autorität und Autonomie im Unterrichtsprozess zu reflektieren und Entscheidungen entsprechend genau abzuwägen.
Ferner ist hinsichtlich der Ausrichtung des Unterrichts darauf zu verweisen, dass bereits die didaktische Fundierung des Unterrichts entscheidend dazu beitragen kann, die Autonomie der Schüler:innen als Ziel, Faktum und Recht ernst zu nehmen. Insbesondere konstruktivistisch informierte Ansätze greifen derartige Gedanken auf und setzen sie – soweit möglich – in die Praxis um.
Fazit: Autorität im Lehrberuf
Abschließend lässt sich festhalten, dass das grundsätzliche Problem der Unvereinbarkeit von Zwang und Autonomie in pädagogischen Kontexten nicht gelöst werden kann. Sobald Ziele vorgegeben und Unterrichtsverpflichtungen ausgesprochen werden, besteht keine Autonomie – was auch durch die besten Ziele nicht kompensiert werden kann. Zugleich ist Autonomie im Sinne von Mündigkeit ohne Unterricht nicht zu haben. Lehrer:innen stehen damit vor der schwierigen Aufgabe, ihre Position sowohl vor sich selbst als auch vor den Schüler:innen zu begründen und ein Unterrichtsklima zu schaffen, das dieses Paradox ausreichend reflektiert und bearbeitet.