Wie kann ich dem Dyslexiker in meiner Klasse beim Textverständnis helfen? Wie unterstütze ich den dysorthographischen Schüler bei Rechtschreibproblemen? Noch vor allen Methoden und Tools sollte die Antwort lauten: Durch den richtigen Umgang. Denn je nachdem, wie mit Schülern kommuniziert wird, werden sie sich anders entwickeln können…
Negativbeispiel
Tim ist Dyslexiker. In zwei Wochen soll er einen Grammatiktest schreiben, die sich über seinem gegenwärtigen Sprachniveau bewegt. Trotzdem lernt er zusammen mit Eltern und Nachhilfelehrer, zwei Wochen lang, jeden Tag. Als er den Test zurückbekommt, ist alles rot markiert. Unter dem Test steht: „Du musst dich mehr anstrengen. Lern beim nächsten Mal.“ Eine Unterstellung, denn woher will der Lehrer wissen, was der Schüler zuhause (nicht) tut – oder warum genau er gescheitert ist? Mit dieser gedankenlosen Formulierung hat der Lehrer mehr Schaden angerichtet, als er ahnt…
Scheitern Menschen, wird das Einfluss auf ihre Selbstwirksamkeitserwartung haben, also auf die Einschätzung, wie erfolgreich sie zukünftig handeln werden. Bei Tim wird diese Selbstwirksamkeitserwartung immer weiter sinken, der Stressfaktor steigt und das, was er in einem Bereich nicht kann, könnte sich wie so oft bei Jugendlichen auf seine gesamte Person übertragen: „Ich kann nicht richtig schreiben – ich bin halt nicht so intelligent…“
Zwei negative Schülertypen
Wenn Tim viel an seinen Leistungen liegt, wenn er sich so fühlt, als hätte er Eltern und beruflichen Selektionsdruck im Nacken sitzen, könnte er denken: „Ich bin schlecht – Ich muss besser werden.“ Einige der Dyslexieschüler in meinen Kursen dachten wie Tim und litten unter einem negativen/destruktiven Selbstbild, Panikattacken, Depressionen, Burn-Out oder hatten null Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Tränenausbrüche sind in diesen Kursen keine Seltenheit.
Auf der anderen Seite stehen die Tims, die sagen: „Ich werde immer schlecht sein – wozu die Mühe?“ Solche demotivierten Schüler sind dann entweder sehr passiv im Unterricht, nur auffällig aufgrund ihrer Unauffälligkeit – oder aber sie stören massiv und boykottieren jeden Aspekt des Unterrichts.
Weit von einer Verbesserung entfernt hat der Lehrer den Schüler nicht motiviert, sondern in Sekundärproblematiken hineingedrängt.
Pädagogische Strategie
Dabei kann dyslexischen und dysorthographischen Schülern leicht geholfen werden, wenn eine gute, lernförderliche Atmosphäre geschaffen wird. Dabei hat sich eine Reduktion von Druck bewährt. Ist ein Test schiefgelaufen, verweist man auf die noch folgenden, die ersteren ausgleichen können. Zählt ein Schuljahr weniger als ein anderes, kann man das ruhig erwähnen. Sorgt beruflicher Selektionsdruck für ein erhöhtes, kontraproduktives Stressniveau, kann gemeinsam mit dem Schüler erfasst werden, wie die Noten für den Wunschberuf eigentlich sein müssen. Ganz zu schweigen davon, dass in einigen Berufen Noten oder Sprache kaum von Belang sind, sodass der Schüler zum Beispiel Künstler, Art Director oder Schauspieler werden könnte.
Hat der Schüler Angst vor bestimmten schulischen Situationen (An der Tafel eine Aufgabe lösen; Texte vorlesen), gilt es, Gespräche zu führen und faire Deals einzugehen. Weiß der Lehrer zum Beispiel, welcher Teil des Textes in der nächsten Stunde drankommt, kann er den Schüler sich auf einen bestimmten Ausschnitt vorbereiten lassen. Meldet der Schüler sich höchst ungern, kann man klein anfangen: Einmal in der Woche melden und etwas sagen reicht schon, um den Schüler im Sinne der Salami-Taktik Scheibe für Scheibe zu motivieren, mehr zu wagen.
Allgemein gilt, dass der Lehrer mit Gelassenheit agieren und dem Schüler diese entspannte Haltung vermitteln sollte. Manchmal ist das verlangte Lerntempo einfach zu schnell und steht einer gründlichen Durchdringung der Unterrichtsinhalte im Weg. Hilfreich ist es dann, wenn klar zwischen Lern- und Leistungssituation getrennt wird: Solange gelernt wird, sollten Fehler völlig in Ordnung sein – immerhin lernt man ja noch.
Definitiv aber muss der Lehrer dem Schüler dabei helfen, sich wegen seiner sprachlichen Mängel nicht als „dumm“ anzusehen – immerhin soll auch Leonardo da Vinci Dyslexiker gewesen sein…
Wichtigkeit des Lobs
In der Fachliteratur herrscht Einigkeit: Gerade dyslexische und dysorthographische Schüler brauchen Lob noch dringender als andere Schüler – was Lehrer, die mehr noch als andere auf den Fehler gedrillt sind, oft nicht gut können oder auch nicht wollen, weil sie bei zu viel positiver Rückmeldung ein Nachlassen der Schülerleistung befürchten. Allerdings sollte klar sein, dass ein Schüler, der überhaupt nicht an sich glaubt und deutlich die vielen Fehler sieht, nicht noch mehr Kritik braucht, sondern ein Loben all dessen, was funktioniert – und seien es nur Details.
Ein guter Lehrerkommentar – der natürlich kein Face-to-Face-Gespräch ersetzen kann – sollte beides tun: Das Negative und das Positive besprechen. Hat der Schüler sich verbessert, und sei es nur minimal, sollte das angesprochen und gelobt werden. Beim Negativen sollten zugleich Wege der Verbesserung aufgezeigt werden. „Lern die Verben besser“ bringt nichts, aber darauf hinzuweisen, dass beim nächsten Mal besonders der ie-Wechsel beachtet werden sollte schon.
Der Lehrer als Game Changer
Selbst ein einziger Kommentar kann im Falle eines dyslexischen oder dysorthographischen Schülers einen Unterschied machen, im Guten wie im Schlechten. Fehler, so sollte den Schülern vermittelt werden, kommen bei allen vor: Ich selbst erzähle ihnen gerne, wie schlecht ich in Mathematik bin – das hilft. Fehler sind menschlich und jedem Lernprozess inhärent: Sobald man lernt, macht man Fehler. Wichtig ist nur, dass der Schüler bereit ist, daran zu arbeiten.
Im Vordergrund sollten nicht Methoden und Tools stehen, sondern die Art und Weise, wie der Lehrer mit seinem Schüler umgeht – wie er ihm vermittelt, dass er sein Problem versteht und ihn unterstützen wird – wie er ihm in einer entspannten, sicheren Atmosphäre ein realistisches, motivierendes Bild seiner selbst vermittelt…