Die allermeisten Menschen gehen davon aus, Kirche und Staat seien in Deutschland getrennt. Dass hierin eine Errungenschaft gesehen wird, äußert sich etwa an der Kritik religiös-autoritärer Regime, wie es sie etwa im Iran gibt. Doch die grundlegende Annahme, in Deutschland sei ein Beispiel für einen laizistischen Staat, ist schlicht falsch. Neben der Eintreibung von Kirchensteuer oder den Kreuzen in bayerischen Behörden ist vor allem der Religionsunterricht an staatlichen Schulen ein Beispiel für die fehlende Trennung von Kirche und Staat. Doch was genau bedeutet das für die Schule und die Schüler:innen?
Religionsunterricht und Grundgesetz
Bildung ist Ländersache – außer im Bereich des konfessionellen Religionsunterrichts. Als einziges Unterrichtsfach wird der Religionsunterricht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtend vorgeschrieben. Ausgenommen sind nur sog. bekenntnisfreie Schulen sowie Privatschulen. Faktisch bedeutet das, dass in beinahe jeder Schule Religion unterrichtet wird. Der Religionsunterricht erhält seine Sonderstellung gegenüber allen anderen Schulfächern ferner dadurch, dass das Curriculum nicht durch den Staat, sondern durch die jeweilige Kirche festgelegt wird. Auch die Lehrer:innen, die Religionsunterricht erteilen wollen, müssen andere Voraussetzungen erfüllen als andere Lehrer:innen: Neben dem zweiten Staatsexamen müssen sie über eine kirchliche Lehrerlaubnis verfügen, die an bestimmte Bedingungen, die wiederum die Kirchen festlegen, geknüpft ist. Daneben dürfen in Grundschulen sowie in der Sekundarstufe I auch Personen unterrichten, die von der Kirche autorisiert sind, aber nicht über eine Lehramtsausbildung verfügen. In der Praxis kommen hier im katholischen und evangelischen Religionsunterricht vor allem Pfarrer:innen, Gemeindereferent:innen und Diakon:innen zum Einsatz.
Die Ziele des Religionsunterrichts
Als konfessioneller Unterricht zielt der Religionsunterricht primär auf die Vermittlung einer bestimmten Ideologie. Als Ziel des Unterrichts festgehalten wurde im Beschluss der gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1974 ferner die Befähigung zu „verantwortlichem Denken und Verhalten im Hinblick auf Religion und Glaube“. Was jedoch verantwortliches Denken und Verhalten in diesem Kontext bedeutet, wird vorgegeben von der Kirche, die bis Juli 2021 in Grundschulen in NRW unter der Prämisse unterrichtete, „dass Gott in der Geschichte der Menschen und zu ihrem Heil wirkt“. Mit dem Ideal der Mündigkeit und der freien Prüfung von Argumenten und Positionen vereinbar ist das indes nicht. Der Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht an Grundschulen in NRW sah bis Juli 2021 weiterhin vor, dass „Geistlichen[] der Pfarrgemeinde oder […] andere[] für den Religionsunterricht ausgebildete[] Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im pastoralen Dienst“ im Rahmen des Unterrichts die Gelegenheit erhalten, „Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Richtlinien und des Lehrplans an das Gemeindeleben heranzuführen“. Mit dem Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses oder gar den kritisch-emanzipatorischen Idealen der Frankfurter Erklärung, die beide die Autonomie der Schüler:innen betonen, ist eine solche Werbung für die Kirche keineswegs vereinbar.
Ethikunterricht als Alternative
Als Alternative zum Religionsunterricht wird in allen Bundesländern, jedoch unter verschiedenen Bezeichnungen, Ethikunterricht angeboten. Auch in diesem wird über Werte, Normen und existentielle Fragen gesprochen – jedoch ohne weltanschauliches Dogma im Hintergrund. Als gleichwertig mit dem konfessionellen Religionsunterricht verankert ist der Ethikunterricht jedoch nur selten. So sind Schüler:innen, die unter vierzehn Jahre alt sind, in vielen Bundesländern zur Teilnahme am Unterricht der Konfession, der sie angehören, verpflichtet. Befreit werden können sie nur durch ihre Eltern, was ihnen die Teilnahme am Ethikunterricht, sofern ein solcher in ihrer Jahrgangsstufe angeboten wird, ermöglicht. Andernfalls sind sie ersatzlos freigestellt. Ab dem Alter von vierzehn Jahren können die Schüler:innen sich selbst befreien – außer in Bayern und im Saarland, wo ein Mindestalter von achtzehn Jahren gilt. Lediglich in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen besteht ab einer bestimmten Jahrgangsstufe eine prinzipiell offene Wahlmöglichkeit zwischen beiden Alternativen. In allen anderen Bundesländern wird standardmäßig Religionsunterricht und Ethik lediglich als Ersatz erteilt. Hinzu kommt der Umstand, dass eine nicht konfessionell gebundene Beschäftigung mit Werten, Normen und existentiellen Fragen meist erst in der Sekundarstufe I, teilweise gar erst ab der Sekundarstufe II möglich ist. Einen Gegenpol hierzu bilden etwa die Bestrebungen in NRW, künftig Ethikunterricht bereits ab der Grundschule zu ermöglichen.
Quellen:
- Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1976): „Der Religionsunterricht in der Schule“. In: Dies. (Hrsg.):
Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I.
Freiburg/Basel/Wien. S. 123-152. Online verfügbar unter:
https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/Synoden/gemeinsame_Synode/band1/synode.pdf [17.10.22]. - Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2012):
Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen.
Düsseldorf. Online verfügbar unter:
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_gs/LP_GS_2008.pdf [17.10.22]. - Kultusministerkonferenz (2020):
Zur Situation des Unterrichts in den Fächern Ethik, Philosophie, Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (L E R), Werte und Normen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin.
Online verfügbar unter:
https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_02_22-Situation-Ethik-Unterricht.pdf [17.10.22].