Mit den kleinen, gelben Reclam-Heften hat wohl jeder deutsche Schüler[1] irgendwann mal zu kämpfen. Das dachte ich zumindest bis sich in der Oberstufe meine Sitznachbarin zu mir beugte und fragte, was das für winzige Bücher auf dem Lehrerpult seien. Da war ich tatsächlich ein bisschen überrascht. Schließlich war ich davon ausgegangen, dass Dramenanalysen einen festen Bestandteil aller deutschen Lehrpläne – unabhängig der Schulform – ausmachen. Aber in diesem Moment wurde mir bewusst, dass anscheinend nicht jeder das Vergnügen hat, sich durch diese Zeugnisse unserer Kultur kämpfen zu dürfen (oder vielleicht auch zu müssen).
Tatsächlich legt unsere Regierung sehr viel Wert darauf, dass es sich bei Deutschland um das “Land der Dichter und Denker” handelt. Ein wichtiger Faktor, der zu diesem Titel beigetragen hat, ist die ereignisreiche Theatergeschichte, die hierzulande viele bedeutende Dramatiker und Künstler hervorgebracht hat. Leider geraten deren Werke gerade bei den jüngeren Generationen immer mehr in Vergessenheit. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass entsprechende Kulturgüter zu wenig Aufmerksamkeit erhalten oder gar überhaupt nicht zugänglich gemacht werden. Viele junge Menschen werden, wenn überhaupt, im Deutschunterricht mit einzelnen wichtigen Dramen konfrontiert. Dabei wird jedoch in erster Linie berücksichtigt, welche Werke vom Kultusministerium oder den Lehrern als bedeutend eingestuft werden. Wobei man an dieser Stelle eigentlich eher “wurden” statt “werden” sagen sollte, da die im Unterricht verwendeten Titel seit Jahrzehnten dieselben sind. Gibt es den keine modernen Dramatiker, deren Werke sowohl lyrisch als auch inhaltlich relevant genug sind, um im Unterricht diskutiert zu werden? Doch, die gibt es. Sie schreiben über politische Krisen, üben Gesellschaftskritik aus oder geben Einblicke in den Alltag verschiedenster Menschen. Sie schreiben darüber, was uns heute bewegt. Welcher Deutschlehrer wurde nicht schon einmal von einem unzufriedenen Schüler gefragt: “Was kümmert es mich, warum Königin Elisabeth ihre Cousine hasst oder warum Goethe ein bestimmtes Wort verwendet und kein anderes?” Wirklich beantworten lässt sich diese Frage nicht. Natürlich ist es gut zu wissen, was beispielsweise die sogenannte “Gretchen-Frage” ist, immerhin sind bestimmte Ausdrücke und Zitate feste Bestandteile unserer Alltagssprache, aber wirklich relevant sind die meisten Themen in Schillers, Goethes oder Lessings Dramen heute nicht mehr. Aber sie waren es einmal. Sie haben gezeigt, was die Menschen zur damaligen Zeit bewegt hat. Zwar stammten viele der handelnden Personen auch aus damaliger Sicht aus der Vergangenheit, trotzdem waren die Inhalte dadurch nicht weniger aktuell und dienten nicht selten zur Verbreitung einer bestimmten Moral oder Meinung. Diese können zum Teil natürlich auch auf die heutige Zeit übertragen werden. Aber der gravierende Unterschied zu den klassischen Dramen aus heutiger Sicht und deren Stellenwert zu ihrer Veröffentlichung ist der, dass sie in ihrer Zeit neu und revolutionär waren und dadurch die Menschen in ihren Bann gezogen haben. Diese Begeisterung lösen sie heute bei der Allgemeinheit nicht mehr aus. Damit möchte ich mich jedoch keinesfalls dafür aussprechen, unsere klassischen Dramen komplett vom Lehrplan zu verbannen. Ich bin sogar der Meinung, dass jeder Schüler mindestens ein deutsches Drama in seiner Schullaufbahn lesen sollte, da es sich dabei um eines der wichtigsten Kulturgüter unseres Landes handelt. Allerdings möchte ich dazu anregen, diese Werke auch unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart zu betrachten, die Frage: “Was wollte uns der Autor an dieser Stelle sagen?”, vielleicht mal im Raum stehen zu lassen und nicht auf die eine “richtige” Antwort zu pochen. Einige moderne Dramen orientieren sich sogar an den Klassikern, sodass man diese auch in Kombination behandeln könnte, um den Fragen auf den Grund zu gehen, warum auch mehrere hundert Jahre alte Werke heute noch relevant sein können und was wir davon lernen können. Gleichzeitig wird so aber auch jüngeren Dramatikern die Möglichkeit gegeben, an Bekanntheit zu gewinnen und zu beweisen, dass es auch in der Gegenwart Menschen gibt, die Publikum und Leser in ihren Bann ziehen können.
[1] Anmerkung: Zur einfacheren Lesbarkeit wird im folgenden Artikel lediglich das männliche Geschlecht verwendet. Dieses steht in diesem Fall jedoch stellvertretend für sämtliche existierende Geschlechter, sodass niemand ausgeschlossen wird.