Die Entwicklung der Lesekompetenz ist ein übergeordnetes Ziel des schulischen Unterrichts. Bereits vor der Einschulung wird in den allermeisten Fällen auf den Erwerb basaler Lesekenntnisse hingewirkt – und das nicht ohne Grund. In einer (digitalen) Schriftkultur ist gesellschaftliche Teilhabe ohne ausgeprägte Lesekompetenz kaum möglich. Doch was genau wird darunter verstanden und wie kann sie gefördert werden?
Was ist Lesekompetenz?
Der Begriff der Lesekompetenz ist heute klar definiert. So versteht die OECD darunter die Fähigkeit, „geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“. Auffällig ist hierbei der Umstand, dass die Lesekompetenz über die reine Fähigkeit, etwas zu lesen, hinausgeht: Lesekompetenz geht über den reinen Akt erfolgreichen Lesens hinaus und bezieht sich als Fähigkeit auch auf die Reflexion des Gelesenen sowie auf seine Instrumentalisierung in unterschiedlichen Kontexten. Zentral berührt ist damit auch einer der Hauptgründe für die Bedeutung von Lesekompetenz: Wer lesen kann, erschließt sich neue Möglichkeiten. So lässt sich das eigene Wissen erweitern und gesellschaftliche Teilhabe erreichen, aber auch bisherige Wertungsschemata reflektieren und neue Perspektiven auf unterschiedlichste Gegenstände erschließen respektive eröffnen.
Stufen der Lesekompetenz
Im schulischen Kontext wird die Lesekompetenz nicht nur gefördert, sondern auch beständig gemessen. Diese Messung wiederum wird als Bedingung der Möglichkeit individueller Förderung verstanden: Nur, wenn das individuelle Level der Lesekompetenz bekannt ist, kann zielgerichtet eingegriffen werden. Aus diesem Grund werden insgesamt fünf Stufen der Lesekompetenz unterschieden, die jeweils wesentliche Fertigkeiten umfassen.
Stufe 1: Elementarstufe
Die erste Kompetenzstufe umfasst Basisfertigkeiten. Die Schüler:innen sind in der Lage, klar benannte Informationen zu ermitteln, den Hauptgedanken eines Textes zu erfassen und einfache Verbindungen zwischen Text und Alltagswissen herzustellen. Das gilt jedoch nur für sehr einfache Texte und bei sehr expliziter Aufgabenstellung.
Stufe 2: Einfache Verknüpfungen
In der zweiten Kompetenzstufe besteht ein größeres Bewusstsein hinsichtlich der Verknüpfung verschiedener textueller sowie textueller mit außertextuellen Inhalten. Die Schüler:innen können wesentliche Informationen auch bei höherer Informationsdichte ermitteln, den Hauptgedanken des Textes benennen und einfache Argumentationen nachvollziehen sowie den Inhalt des Textes mit vorhandenem Wissen und eigenen Erfahrungen in Verbindung bringen.
Stufe 3: Integration verschiedener Elemente
In der dritten Kompetenzstufe gelingt es den Schüler:innen, mit komplexen Texten zu arbeiten, die aus verschiedenen Elementen bestehen und anspruchsvoll aufgebaut sind. Sie können hier die wesentlichen Informationen ermitteln, auch wenn diese über den Text verteilt sind und dieser konkurrierende Informationen enthält. Ferner sind sie in der Lage, den Hauptgedanken eines Textes nachzuvollziehen, auch wenn dieser nicht explizit benannt, sondern über den gesamten Text hinweg entfaltet wird. Hierbei berücksichtigen sie Schlussfolgerungen und sind in der Lage, sich die Bedeutung unvertrauter Wörter sowie komplexer Sätze aus dem Kontext zu erschließen. Darüber hinaus sind sie in der Lage, textuelle Informationen in Beziehung zu außertextuellen Informationen zu setzen, diese zu vergleichen und einzuordnen.
Stufe 4: Detailliertes Verständnis
Der Umgang mit Texten wird hier noch einmal komplexer. So können die Schüler:innen nicht nur die bisherigen Informations- und Reflexionsarbeiten leisten, sondern auch Textnuancen verstehen, sprachliche Feinheiten wahrnehmen und einordnen, mit langen Texten arbeiten, deren Aufbau erst erschlossen werden muss, und vor dem Hintergrund bestehenden Fach- wie Allgemeinwissens kritische Hypothesen hinsichtlich des Textinhaltes formulieren sowie begründen.
Stufe 5: Expert:innenstufe
Die fünfte ist die letzte Stufe der Textkompetenz. Die Schüler:innen sind nun in der Lage, auch mit dem Inhalt wie der Form nach völlig unvertrauten Texten eigenständig zu arbeiten. Sie können nicht nur alle enthaltenen Informationen ermitteln, sondern auch vielfältige Bezüge zu bestehendem Wissen herstellen sowie die Texte vor diesem Hintergrund einordnen und kritisch reflektieren. All das gelingt auch ohne konkrete Aufgaben- bzw. Fragestellung.
Das Stufenmodell, das in unterschiedlichen Kontexten durchaus variiert wird, zeigt deutlich auf, dass die Einordnung der Lesekompetenz vor allem von drei Faktoren abhängig ist: Informationsermittlung, Verständnis bzw. Interpretation sowie Reflexion und Bewertung. Diese Einzelkompetenzen, die die Lesekompetenz bilden, entwickeln sich stufenweise fort – und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Ausprägung als auch hinsichtlich ihrer Ausweitung auf komplexere Texte.
Lesekompetenz im Unterricht fördern
All das wirft die Frage auf, wie sich die Lesekompetenz in der Praxis fördern lässt. In der Lesedidaktik gilt als unstrittig, dass – paradoxerweise – das Lesen die Lesekompetenz fördert: Wer viel liest, kann besser lesen. Zurückgeführt werden kann das auf die aus intrinsischer Motivation erfolgende, meist nicht explizite Entwicklung von Lesestrategien beim Lesen subjektiv als interessant bewerteter Texte. Auf diesem Grundgedanken basieren vielfältige Leseförderprojekte, die sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Kontext etabliert wurden. Zentral zu nennen sind hier etwa Vorleseprojekte, die das allgemeine Leseinteresse fördern sollen, sowie Buchclubs und ähnliche Angebote.
Die Implementierung einer Lesekultur in der Schule wird als wichtigstes Instrument der Förderung der Lesekompetenz verstanden: Hier werden alle Schüler:innen gleichermaßen angesprochen und erreicht, was bei außerschulischen Angeboten nicht der Fall ist. Die Rolle der Lehrer:innen kann in diesem Kontext folglich kaum überschätzt werden. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, Lesefreude zu wecken. Die Vorstellung zielgruppengerechter Bücher, die Besprechung von Büchern, die die Schüler:innen selbst auswählen, Vorleseprojekte sowie beständige Einbindung zwanglosen Lesens in den Unterricht scheinen hier geeignete Wege zu sein. Die forcierte Vermittlung von Lesestrategien hingegen erscheint in der Praxis als unterlegen. So ist die Lesefreude in den Niederlanden, in denen begrijpend lezen ein eigenes Schulfach darstellt, im internationalen Vergleich besonders gering ausgeprägt. Ein Kausalzusammenhang lässt sich zwar nicht belegen; der Umstand, dass Flandern, das ebenfalls besonders großen Wert auf die Vermittlung von Lesestrategien legt, ebenfalls ganz unten steht, deutet jedoch in diese Richtung. Auch hinsichtlich der Lesekompetenz schneidet Deutschland, das vor allem auf Lesefreude setzt, geringfügig besser ab als die Niederlande, die vor allem auf Lesestrategien setzen: Deutschland erzielte im PISA-Ranking 2018 einen Score von 498, die Niederlande erreichten 485 Punkte.