
Pädagogik ist notwendig politisch. Insbesondere im Schulunterricht ist dieser Zusammenhang offensichtlich: Die Auswahl der Unterrichtsinhalte, die Wahl der Methoden und die angestrebten Ziele sind eng verbandelt mit den gesellschaftlichen Kontexten, in denen der Unterricht stattfindet. Besonders deutlich wird das im Politik- und Wirtschaftsunterricht: Sollen die Schüler:innen Fakten über das marktwirtschaftliche System lernen, um in ihm funktionieren zu können? Sollen sie es vor dem Hintergrund der damit einhergehenden sozialen, ökologischen und ethischen Probleme kritisch reflektieren? Sollen nicht-demokratische Gesellschaftsformen im Unterricht behandelt werden? Wenn ja: wie? Diese und viele weitere Fragen wurden immer wieder breit diskutiert. Im Zuge dessen wurde von Politikdidaktiker:innen im Jahr 1976 der Beutelsbacher Konsens als Leitfaden für die politische Bildung veröffentlicht. Aus der Kritik an diesem Leitfaden ging im Jahr 2015 die Frankfurter Erklärung als Alternativkonzept hervor.
Der Beutelsbacher Konsens
Die zentralen Säulen der politischen Bildung bilden dem Beutelsbacher Konsens folgend das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Schüler:innenorientierung. Festgehalten ist damit vor allem, dass der Unterricht nicht indoktrinieren, die Interessen und Fragen der Schüler:innen beachten und unterschiedliche Positionen thematisieren soll. Lehrer:innen sollen die Schüler:innen primär dazu befähigen, sich mit bestehenden Positionen auseinanderzusetzen und reflektiert eine eigene Meinung zu bilden. Die persönlichen Ansichten der Lehrperson haben dem Beutelsbacher Konsens folgend entsprechend keinen Raum im Unterricht: Sie sind zugunsten des genannten Ziels zurückzustellen. Einen Praxisleitfaden stellt das jedoch nicht dar, wie vor allem die sehr unterschiedlichen Auslegungen des Kontroversitätsgebots zeigen. Umfragen zeigen etwa, dass viele Lehrer:innen hierin die Aufforderung sehen, alle populären Positionen gleichermaßen und auf die gleiche Weise im Unterricht zu besprechen – was nicht im Sinne eines inhaltsorientierten und in diesem Sinne reflektierten Unterrichts ist.
Die Frankfurter Erklärung
Der Beutelsbacher Konsens wurde immer wieder kritisiert. Insbesondere Vertreter:innen der Kritischen Erziehungswissenschaft, die als Ziel der pädagogischen Praxis die Transformation der Gesellschaft weg von bestehenden Herrschafts- und Machtstrukturen verstehen, haben breite Kritik an ihm geäußert. Bettina Lösch etwa sieht in ihm primär ein Instrument der Zementierung bestehender politisch-gesellschaftlicher Verhältnisse. So weist sie darauf hin, dass der Beutelsbacher Konsens stillschweigend davon ausgehe, alle Akteur:innen hätten die gleiche Möglichkeit, ihre Themen und Positionen im öffentlichen Raum zu positionieren. Ausgehend von dieser uneingestandenen Prämisse soll der Politikunterricht – dem Beutelsbacher Konsens folgend – sich ausschließlich den populärsten Positionen widmen. Dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse dazu führen, dass bestimmte Positionen sichtbarer, andere hingegen öffentlich kaum wahrnehmbar sind, werde dabei vergessen. Somit wirke der Beutelsbacher Konsens letztlich als konservatives Instrument: Der status quo werde dadurch bewahrt, dass nur die im bestehenden Diskurs zentralen Positionen im Unterricht thematisiert werden, womit auch im Unterricht keine Auseinandersetzung mit den vom Diskurs ausgeschlossenen Akteur:innen wie mit den Mechanismen des Ausschlusses stattfinde.
Ausgehend von dieser Kritik wurde die Frankfurter Erklärung als Gegenentwurf zum Beutelsbacher Konsens erarbeitet. Sie basiert auf der Annahme der Unmöglichkeit politischer Neutralität, die der Beutelsbacher Konsens anstrebt: Neutralität ist – im oben beschriebenen Sinne – selbst eine politische Positionierung mit politischen Konsequenzen. Gefordert wird folglich nicht eine neutrale, sondern eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung. Im Fokus stehen sollen der Frankfurter Erklärung nach primär Auseinandersetzungen mit Machtverhältnissen. Der Politikunterricht soll demnach nicht wie beim Beutelsbacher Konsens die populärsten Positionen thematisieren, sondern vielmehr hinterfragen, welche Strukturen dazu führen, dass gerade diese Positionen eine besondere Stellung im öffentlichen Diskurs einnehmen. Der Unterricht soll damit ein Bewusstsein für Machtstrukturen schaffen, sie analysieren und mit aktuellen Krisensituationen in Verbindung bringen. Ferner soll er dazu anregen, eigene Macht- und Ohnmachtserfahrungen zu reflektieren, und letztlich dazu befähigen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Er zielt damit zentral auf die Handlungsfähigkeit der Schüler:innen, die in die Lage versetzt werden sollen, sich von bestehenden Machtstrukturen zu emanzipieren.
Fazit: Beutelsbacher Konsens und Frankfurter Erklärung
Letztlich unterscheiden die beiden bekanntesten Leitfäden für die politische Bildung sich primär in ihren Vorannahmen. Während der Beutelsbacher Konsens davon ausgeht, die politische Bildung könne selbst außerhalb des Politischen stehen, verweist die Frankfurter Erklärung auf die untrennbare Verbundenheit mit den öffentlichen politischen Diskursen, die wiederum in ihrer jeweiligen Ausprägung den bestehenden Machtstrukturen entspringen. Ausgehend von diesem gegensätzlichen Verständnis der Möglichkeit politischer Neutralität entfalten sich zwei unterschiedliche Zugänge zum Politikunterricht.
Quellen:
- Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.). (o.J.):
Beutelsbacher Konsens. Standard für den politisch-historischen Unterricht an allen Schulen.
Online verfügbar unter:
https://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens/ [28.08.22]. - Lösch, Bettina (2020): „Wie politisch darf und sollte Bildung sein? Die aktuelle Debatte um ‚politische Neutralität‘ aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung“.
In: Gärtner, Claudia; Herbst, Jan-Hendrik (Hrsg.): Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung. Wiesbaden. S. 383-402. - Universität Oldenburg (Hrsg.). (2015): Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung.
Online verfügbar unter: https://uol.de/f/1/inst/sowi/ag/politische_bildung/Frankfurter_Erklaerung_aktualisiert27.07.15.pdf [16.10.22].