Dyslexie als angeborene Teilleistungsschwäche im Bereich des Lesens betrifft nach Schätzungen der EÖDL fünfzehn Prozent der Gesellschaft – Grund genug für Lehrkräfte, diese (nach Neurodys) 2,5 Millionen Schüler in der heutigen EU zu erkennen, wenn sie vor einem sitzen. Denn vor einer effektiven Förderung muss das Problem erkannt werden und zwar von denen, die den meisten Sprachkontakt mit Schülern haben – zumeist die Lehrer selbst.
Probleme des Dyslexikers
Versteht man, was genau im Bereich der Sprache dem Dyslexiker schwerfällt, erschließt sich zugleich logisch, an welchen Fehlern oder Problemen ein Dyslexiker erkannt werden kann.
Im Idealfall ist das Wortverständnis eines Menschen ganzheitlich: Er versteht das Wort dann als eine Einheit von Form, Klang und Sinn. So kann beispielsweise das Wort „Wald“ gesprochen und damit gehört werden (Klang) oder mittels Schreibwerkzeug in Form von Linien auf Papier gebracht werden (Form). Aufgrund von konventionalisierten Regelsystemen, in die jeder Mensch z.B. durch Schule initiiert werden muss, ergeben Klang und Form einen Sinn. Voraussetzung für einen raschen und korrekten Leseprozess sind dabei Segmentierungsstrategien: Der kompetente Leser kann Texte in Silben (Weih-nach-ten) und Morpheme (Weih-nacht-en) unterteilen und so die Bedeutung erschließen, ganz zu schweigen von den Sichtwörtern, die der Leser nicht einmal liest, sondern rasch an ihrer spezifischen Form erkennt.
Diese Einheit des Wortes und die Anwendung von Segmentierungsstrategien fehlt bei dem Dyslexiker: Wo die Silben sinnvoll zu setzen sind, damit das Wort eine Bedeutung hat, erschließt sich zumeist nicht; der Schüler reiht Buchstabe an Buchstabe, um einen Klang zu erzeugen, oder überspringt sogar, weil der Leseakt so anstrengend ist, unbewusst manche Buchstaben oder sogar Zeilen. Dass am Ende dieser mühseligen Dechiffrierung kein wirkliches Textverständnis entstehen kann, versteht sich von selbst.
Indikatoren für Dyslexie
Zeilensprünge beim Vorlesen, oftmaliges Stocken, sehr langsames Lesetempo, aber auch das Weglassen oder Hinzuerfinden von Wörtern sind damit typische Indikatoren einer Dyslexie. Fragt man diesen Schüler anschließend nach dem Inhalt, wird man teilweise überrascht sein, wie anders seine Vorstellung von der Textwelt sein wird.
Doch nicht nur eine hohe Fehlerquote bei der Inhaltsklärung kann ein Problem darstellen: Denn da eine Worteinheit nur unvollständig gegeben ist, kann der Dyslexiker auch Probleme haben, seine Gedanken in Wörter zu kleiden. Auch Stottern ist dann keine Seltenheit.
Ist die Dyslexie besonders im akustischen Bereich anzusiedeln, kann es auch bei Hörverstehen schwierig werden oder wenn es um das Erkennen von Reimen geht: So können viele Dyslexiker die Worte „Klaus“ und „Graus“ nicht als Reim identifizieren. Auch das ist auf eine differente Sinneswahrnehmung und vor allem Segmentierungsstrategie zurückzuführen: Die Konsonanten „l“ und „r“ vor dem „aus“ identifizieren die Dyslexiker als unähnlich und damit als nicht-reimend.
Aus diesen Schwierigkeiten ergeben sich Folgeprobleme für den gesamten Unterricht, die dafür sorgen, dass der Dyslexiker weniger gut versteht und – einem viel zu schnellen Tempo ausgesetzt – nur mangelhaften Lernertrag davonträgt. Allein das Abschreiben von der Tafel gerät zur Challenge, wenn der Blick mehrmals zwischen dem Wort an der Tafel und dem Wort auf dem Papier hin- und herspringen muss – während der Lehrer vielleicht auch noch parallel erklärt und auf schnelleres Abschreiben der eventuell sogar unleserlichen Wörter drängt…
Gerade Überforderung wird nämlich dazu führen, dass der Schüler noch mehr Vermeidungs- und fehlerhafte Alternativstrategien entwickelt: Texte nicht mehr lesen (oder nur den Wikipediabeitrag zur Lektüre) oder schneller und damit fehlerhafter lesen, weil aus Wortteilen der Rest des Wortes kombiniert wird. Dann kann es schon mal vorkommen, dass aus dem Wort „Schocktherapie“ das Wort „Schokolade“ entsteht…
Andere Ursachen ausschließen
Allerdings müssen all diese Indikatoren mit großer Vorsicht angewendet werden. So wie ein positiver Corona-Test nicht nur auf Corona, sondern auch auf Grippe verweisen kann, so kann auch das Nicht-Merken von Aufträgen, wie es bei manchen Dyslexikern vorkommt, auf andere Faktoren zurückzuführen sein: Vielleicht hat der Schüler ADHS, vielleicht hört er aber auch einfach nicht zu, weil er keine Lust hat; vielleicht hat er ein akustisches Problem oder kann die unleserliche Schrift des Lehrers an der Tafel nicht entziffern.
Bevor der Lehrer also jedem dritten Schüler erklärt, dass er Dyslexie habe, muss bedacht werden, dass eine Dyslexiediagnose vielfältige andere Problematiken ausschließen muss. Versteht ein Schüler kaum ein Wort, findet er die korrekte Aussprache nicht oder geht die Aufmerksamkeit beim Lesen immer wieder weg (ein typischer Indikator), kann dies auch daran liegen, dass der Schüler einen fremdsprachlichen Hintergrund hat – oder aber unmotiviert, übermüdet, überlastet oder konzentrationsgestört ist. All diese Faktoren und mehr wird ein kompetenter Psychologe ausschließen können. Aber auch der Lehrer sollte sie beachten – immerhin ist bei jeder Ursache eine je andere Förderung notwendig.
Unsere Verantwortung: Dyslexiker früh erkennen und fördern
Lehrer, gerade Sprachlehrer, tragen eine große Verantwortung, weil sie in Leseverstehenstests, Interpretationsaufsätzen, Hörverstehen oder Referaten besonders viele Möglichkeiten haben, Dyslexiker zu erkennen und ihnen anschließend zu helfen. Mehr Zeit zum Lesen und Abschreiben, Hilfestellung bei Lektüren oder einfach nur Verständnis für die Mühseligkeit des Leseprozesses können diesem Schüler bereits helfen, um motivierter und effektiver an Texte heranzugehen.
Unerlässlich wird allerdings auch der enge Kontakt mit (Schul-)Psychologen und Eltern sein – je früher, desto besser. Denn je älter ein Schüler wird, desto mehr fehlerhafte Strategien haben sich bereits eingeschlichen, desto mehr Sekundärproblematiken (geringe Selbstwirksamkeitserwartung, Depression…) sind bereits aufgetreten. Je früher der Lehrer das Problem erkennt und interveniert, desto effektiver wird die Förderung des Dyslexikers sein, um ihm die Orientierung in einer schriftbasierten Gesellschaft zu erleichtern.