Je inklusiver unser Schulsystem wird, desto mehr müssen sich die Lehrkräfte mit verschiedensten Lernproblematiken auseinandersetzen. Besonders im Sprachunterricht sehen sie sich konfrontiert mit Begriffen wie Dyslexie, Dysorthographie oder LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche). Die Schüler, die diese Diagnosen erhalten, sehen sich vor Schwierigkeiten gestellt, die sie teils überfordern, frustrieren, demotivieren und an den Rand ihrer Belastbarkeit bringen. Doch was genau bezeichnen diese Begrifflichkeiten eigentlich? Und was können Lehrkräfte tun, um diese Schüler adäquat zu fördern?
Dyslexie und Leseschwäche
„Iuuarhelb vou drai Winntau sollt ihr dia folgaudau Fregau baeutwortau…“ So stellen sich vielen Dyslexikern die Arbeitsaufträge und Texte dar, die sie in der Schule zu lesen bekommen. Sind sich Buchstaben zu ähnlich, wie das „a“ oder das „e“, das „W“ und das „M“ oder „b“, „d“, „p“ und „q“, vertauschen sie diese. Bis zur orthographischen Stufe, bei der Sichtwörter, Silben- und Morphemverbände auf einen Blick erfasst werden, gelangen die Dyslexiker meist überhaupt nicht: Weil sie teils Buchstabe für Buchstabe lesen und diese oft auch noch vertauschen, ist der Lesevorgang verlangsamt und die Informationssicherung in Texten zumeist mangelhaft. Bei manchen reicht ein Störgeräusch aus und sie vergessen alles, was sie gerade gelesen haben.
Diese Teilleistungsschwäche – von manchen auch als Legasthenie bezeichnet – ist genetisch veranlagt und angeboren: Die Dyslexiker werden ihr Leben lang Probleme mit dem Lesen haben. Anders sieht es bei einer Leseschwäche aus: Auch hier liegt ein massives Leseproblem vor, nur ist es nicht angeboren, sondern erworben. Depression, mangelhafte Beschulung, längere Krankheit – alles das sind Gründe, die den Erwerb von Lesekompetenzen behindern können. Im Idealfall wird sich dieses Problem durch intensive Förderung beheben lassen.
Dysorthographie und Rechtschreibschwäche
„Ader nuch isch draf die Welder durchstraifne…“ Schüler mit Dysorthographie haben ein massives Rechtschreibproblem: Der Unterricht ist für sie von Anfang an zu schnell, teils zu intuitiv und zu wenig explizit, sodass sie bei basalen Prinzipien stehen bleiben. „Wälder“ kommt von „Wald“, „Felder“ von „Feld“: Der gleiche ä-Laut, aber ein anderer Wortstamm, der im Sinne der Leserfreundlichkeit erhalten bleiben soll. Bis zu diesem morphologischen Prinzip gelangen die dysorthographischen Schüler zumeist aber nicht und verschriftlichen, wie es das phonologische Prinzip verlangt: „Schreib, wie man es spricht“. Doch selbst das kann zur Verwirrung führen: Schreibt man den ai-Laut mit „ei“ oder „ai“? Ist es „nuch“ oder „nur“? Hinzu kommt die Tendenz, Buchstaben zu verdrehen (Ader statt Aber), im Wort zu vertauschen (draf statt darf) oder sogar hinzuzufügen.
Auch hier muss unterschieden werden zwischen Dysorthographie und Rechtschreibschwäche: Ersteres ist wieder angeboren, letzteres erworben.
Ausschlussdiagnose: Diese Schüler sind nicht faul oder dumm
Bei Dyslexie, Dysorthographie und auch LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) gilt, dass andere Problematiken ausgeschlossen werden müssen. Wenn ein Schüler beispielsweise eine sehr kraklige Schrift hat, Buchstaben mehrmals übermalt, kann das auf Dysorthographie, aber auch auf Probleme in der Motorik zurückzuführen sein. Mangelnde Konzentration bei Leseakten kann entweder Dyslexie oder eine ADHS-Problematik sein.
Aus diesem Grund müssen Diagnosen über längere Zeiträume hinweg vielfältige Faktoren ausschließen oder ihr Vorhandensein bestätigen. Fest steht, dass Dyslexie und Dysorthographie nicht auf Faulheit, Konzentrationsmangel oder die soziökonomische Situation zurückzuführen ist – diese Faktoren können zur Problematik hinzutreten und die Auswirkungen verschlimmern, sind aber nicht ihr Auslöser.
Definitiv aber haben Dyslexie und Dysorthographie nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Bei beiden Lernproblematiken handelt es sich um eine Teilleistungsschwäche: In anderen Bereichen können dyslexische und dysorthographische Schüler sogar besonders gut sein – es ist nur die Sprache, die ihnen aufgrund differenter Sinneswahrnehmungen im optischen und/oder akustischen Bereich Probleme bereitet. Sie haben also weder ein Problem mit Augen oder Ohren, sondern eine andersgeartete Sprachverarbeitung. Neuere Forschung von Le Floch und Ropars legt beispielsweise nahe, dass bei solchen Schülern das Gehirn nicht entscheiden kann, von welchem Auge das Bild übernommen werden soll, weil keines der Augen ein dominantes ist – daher auch die Verwechslung von „b“, „d“, „p“ und „q“.
Schüler unterstützen – Leidensdruck minimieren
Was auch immer die Ursachen dieser sprachlichen Teilleistungsschwäche sind, Lehrkräfte müssen sich darum bemühen, die betroffenen Schüler bestmöglichst beim Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen zu unterstützen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist es, diesen Schülern Verständnis entgegenzubringen und ihnen nicht zu suggerieren, dass ihr Problem auf Faulheit oder mangelnde Intelligenz zurückzuführen sei – genau das wird ihnen oftmals vorgehalten und von ihnen selbst geglaubt. Vielen dieser Schüler ist ein großer Leidensdruck gemein, eben weil sie nicht den gesellschaftlichen und schulischen Anforderungen an Lesen und Schreiben genügen. Schlechte Noten, enttäuschte oder wütende Eltern und Lehrer, jahrelang immer wieder das Ungenügen in sprachlichen Situationen, egal wie oder wieviel man lernt – viele Schüler sind dadurch so belastet, dass sie Depressionen, Panikattacken und starke Selbstzweifel entwickeln, die ihnen den Zugang zur Sprache und ihren faszinierenden Facetten verwehren. Lesen und Schreiben sind zentrale Kompetenzen in unserer Gesellschaft – den Schülern diese Teilhabe zu ermöglichen, erfordert neben Feingefühl methodisches und didaktisches Wissen, das in den nächsten Artikeln dieser Reihe präsentiert werden soll.